Erziehung und Bildung für Kinder
und nicht
an ihnen vorbei

Erlauben Sie mir zunächst eine persönliche Bemerkung zum Thema, denn das, was ich im ersten Teil meines Referates zu sagen habe, hat nur wenig mit irgendwelchen Bücherweisheiten zu tun, aber viel mit der Erziehungspraxis vor allem in den Familien, aber auch in den Kindergärten.

Diese Praxis interessiert mich aus verschiedenen Gründen seit etwa 40 Jahren, weil ich bestimmte Vorstellungen von dem hatte bzw. habe, was „Erziehung für Kinder und nicht an ihnen vorbei“ heißt. Grundlage bzw. Hintergrund meiner Vorstellungen sind die folgenden drei Leitideen:

1. Kein Kind kann sich seine Eltern aussuchen. Es ist immer die Entscheidung der Eltern, dass ihr Kind geboren wird. Und aus dieser Entscheidung ergibt sich für sie meines Erachtens die geradezu “heilige Pflicht“, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Kind mit dem Ziel zu entwickeln, dass es ihm an Leib, Seele und Geist gut geht.

2. Alle Eltern müssen sich intensiv um die verständnisvolle Erziehung ihres Kindes bemühen, denn sie und nicht der Kindergarten oder die Schule tragen die Hauptverantwortung für seine Entwicklung. Auch sollte ihnen ihr Kind „später“ einmal sagen: Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihr mich wirklich lieb gehabt habt, denn ihr hattet meistens wenig Zeit für mich. Außerdem seid ihr oft sehr ungeduldig mit mir gewesen und habt wenig Verständnis für mich gehabt. Daher war es auch nicht kinderleicht bei euch, ein Kind zu sein.- All´das wird ein Kind dann nicht sagen, wenn sich Eltern   ihrer Verantwortung bewusst gewesen sind und nicht an ihm vorbei erzogen haben.

3. Ein Kind, das sich ungeliebt fühlt, ist unerziehbar.
Von diesen Leitideen bin ich bei den zahllosen Gesprächen, die ich seit vielen Jahren mit Eltern geführt habe, ausgegangen. Bei diesen Gesprächen habe ich wichtigste Erfahrungen gemacht, über die ich Ihnen zunächst berichten werde, weil sie aufschlussreich für das Thema meines Referates sind.

Diese Erfahrungen haben zu immer wieder neuen Fragen geführt. Beispielsweise zu folgenden: Wovon hängt es eigentlich ab, dass ein Kind seine Eltern nicht nur respektiert, sondern achtet und liebt? Wovon, dass es gehorsam   ist und das tut, was man von ihm erwartet? Wie kann es dazu kommen, dass ein Kind ständig z.B. ungehorsam ist und es bei der Erziehung zu unerträglichen Machtkämpfen kommt? Hängt alles davon ab, wer in einer bestimmten Situation was sagt? Oder etwa davon, wie etwas gesagt wird?

Mit diesen Fragen habe ich mich intensiv befasst und bin zu   Ergebnissen gekommen, die für Sie vermutlich interessant sind.

Nun zum Thema! Bei den meisten Eltern ist zwar viel guter Wille da und sie wollen in der Erziehung möglichst auch alles richtig machen, aber hinsichtlich des Erziehungsprozesses sind ihnen wesentliche Zusammenhänge nicht bekannt. Diese Unkenntnis, die man ihnen kaum zum Vorwurf machen kann, hat unter anderem zur Folge, dass sie z.B. die kognitiven Fähigkeiten ihres Kindes überschätzen; dass sie unrealistische Erwartungen an den Kindergarten haben; ihrem Kind in bester Absicht eine Fülle von Lern-Angeboten machen und nicht einmal ahnen, dass sie ihr Kind damit überfordern können. Ich kenne nicht wenige Mütter, die sich als Animateurinnen verstehen und aufgeregt reagieren, wenn ihr Kind noch nicht das weiß und kann, was ein Gleichalteriges schon gelernt hat. Kurzum: Weil viele Eltern nicht wissen, was „Erziehung vom Kinde aus“ heißt, denken und handeln sie quasi an ihrem Kind vorbei und verursachen wenigstens teilweise die Probleme, die sie beklagen.

Eine andere Beobachtung: Viele Eltern sind verunsichert und fühlen sich überfordert. So steht es übrigens auch in jedem Familienbericht, den die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen vorlegt. Zwar sprechen sie nicht gern über ihre Verunsicherung, denn wer gibt schon gern zu, wenn es Erziehungsprobleme gibt. Erst wenn es gar nicht mehr anders geht, wendet man sich ratsuchend z.B. an Erzieherinnen oder Erziehungsberatungsstellen.

Viele Eltern machen täglich die Erfahrung, dass die Erziehung eines Kindes auch Arbeit ist, auf die man nicht gut vorbereitet war. Und zwar Arbeit mit dem Kind, aber auch an sich selbst, wenn man z.B. dazu neigt, schne­ll „auszurasten“ und durch Überreaktionen neue Erziehungsprobleme zu verursachen.

Diese und auch andere Erfahrungen haben vor etwa dreißig Jahren dazu geführt, dass ich über Jahre hinweg Kindern und Jugendlichen, mit denen ich täglich in der Schule zu tun hatte, folgende Fragen gestellt habe: „ Wirst du von deinen Eltern und auch Lehrerinnen bzw. Lehrern richtig erzogen? - Und wenn du unzufrieden bist, was kritisierst du an deiner Erziehung?“ Das waren zwar keine repräsentativen Umfragen, aber es hat mich oft beunruhigt, wie Heranwachsende diese Fragen beantwortet haben.

Interessant sind in diesem Zusammenhang nicht nur die Ergebnisse der Untersuchungen des „Jugendwerkes der Deutschen Shell“, sondern auch die einer Befragung, die von der Zeitschrift “Eltern“ im Jahr 2002 durchgeführt worden ist. Folgende Frage wurde 1 344 Kindern und Jugendlichen im Alter von neun bis fünfzehn Jahren gestellt: „Wirst du richtig erzogen?“ Das Ergebnis war: Nur jedes zweite Kind sagt: „Ich werde richtig erzogen!“

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1. Konsequent und einfühlsam:   44,5%

2. Unzeitgemäß, altmodisch:     23,9%

3. Inkonsequent, falsch:             18,4%

4. Zu streng                                   11,1%    

6. Weiß ich nicht:                         2,1%


Was den Kindern und Jugendlichen an ihrer Erziehung nicht gefällt:

1. Zu viel Zwang
2. Zu viele Ratschläge
3. Zu viel Kontrolle
4. Zu viele Verbote und Strafe
5. Zu wenig Zeit für Gespräche
6. Zu häufiges Ausschimpfen
7. Ungerechte Behandlung

Diese und auch andere Umfrageergebnisse belegen eine gewisse   Unzufriedenheit der Heranwachsenden mit der Erziehung. Ist eine solche Unzufriedenheit normal? Noch interessanter sind aber folgende Fragen:   Was verstehen Eltern heute im allgemeinen unter Erziehung und woran orientieren sie sich beim Erziehen eigentlich? Bemühen sie sich intensiv um die verständnisvolle Erziehung? Was ist passiert bzw. wie kann es geschehen, wenn ein Kind nur noch schwer oder gar nicht mehr zu erziehen ist?

Diese Fragen habe ich in vielen Gesprächen mit Eltern, aber auch Erzieherinnen und Lehrkräften zu klären versucht und Antworten erhalten, die mich sehr nachdenklich gemacht haben. Auch in der „Ingolstädter Elternschule“, die ich vor vier Jahren mit einer Journalistin gegründet habe, haben wir über diese Frage schon oft diskutiert. Da die Ergebnisse dieser Gespräche für das Thema meines Referates sehr wichtig sind, möchte ich sie unter drei Aspekten   zusammenfassen.  

1. Viele Eltern bemühen sich nicht intensiv um die am Kind orientierte Erziehung. Sie haben irgendwel­che Vorstel­lungen vom Erziehen, an denen sie sich orientieren und glauben, dass sie die Erziehung ihres Kindes, wie sie sagen, „schon ir­gendwie hinkrie­gen“ werden. Dabei verlassen sie sich vor allem auf ihre ­Gefühle. Dass die Erziehungs-Vorstellungen   immer auch etwas mit der eigenen Kindheits- und Erzie­hungs­geschichte zu tun haben, ist natürlich, denn in jedem von uns lebt das Kind wei­ter, das wir einmal waren.

Ich bin nun aber der Ansicht, dass es letztlich unverantwortlich ist, wenn irgendwie erzogen wird; wenn man   sich allein auf seine Gefühle verlässt   und, wie heute gesagt wird, „aus dem Bauch heraus“ erzieht. Ja, ich halte das für falsch, denn jeder weiß doch, dass gerade beim Erziehen Gefühle nicht immer die besten Ratgeber sind. Sie können nämlich leicht dazu verführen, z.B. wenn ein Kind partout nicht gehorchen will, wenn ein Streit geschlichtet   werden muss oder nicht lernen will, manchen folgenreichen Unsinn zu machen.

Mit anderen Worten: Wenn bei der Erziehung Stimmun­gen und vielleicht sogar Launen -von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt- eine allzu große Rolle spielen, wird z.B. heute über das geschimpft, worüber gestern noch geschmunzelt wurde. Aber dieses HEUTE HÜ UND MORGEN HOTT lehnt jedes Kind ab, wie Untersuchungen belegt haben. Längst nicht allen Eltern ist das aber klar. Sie wissen nicht, dass Kinder schon früh und konsequent dazu erzogen werden müssen, z.B. Regeln für das Miteinander und auch Grenzen zu beachten. Und sie wissen auch nicht, dass die so genannten   Wechselbäder der Gefühle, die immer auch Zeichen für eine bestimmte Unordnung sind, jedes Kind verunsichern. Aber nicht nur das: Das Kind beginnt, an der Erziehungskompetenz seiner Eltern zu zweifeln.

Das bedeutet für die verständnisvolle Erziehung: Wer nicht nur in kritischen Situationen, sondern überhaupt dem Bauch ein größeres Mit­sprache­recht als dem Kopf einräumt und sich nur von seinen Emotionen leiten läßt, wer zu wenig oder gar nicht das bedenkt, was er mit seinen Worten und Taten vielleicht anrichten kann, handelt im Grunde unverant­wortlich.

2. Ein anderes Problem der Erziehung ist, dass viele Eltern ­­beim Erziehen zwar durchaus beste Absichten haben, aber oft gibt es Schwierigkeiten, die ­­­Erziehungsziele, die sie sich gesetzt haben, auch zu erreichen. Interessant ist, dass die Eltern in Deutschland seit Jahren die gleichen Erziehungsziele haben.

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Erziehungsziele                             Von 100 Eltern in Deutschland

                                                        halten für ihre Kinder wichtig:

Selbstvertrauen                                                 92

Selbständigkeit                                                  84

Verantwortungsbewußtsein                                  85

Verständnis für andere                                        84

Höflichkeit                                                        78

Gute Bildung                                                     78

Pflichtbewusstsein                                             74

Fleiß                                                               66

Gehorsam                                                         55

(Quelle: Deutsches Jugendinstitut, München)

Tatsache ist, dass Eltern oft übersehen, dass beim Erziehen gute Absichten allein nicht genügen. Auch Liebe genügt nicht. Ein Arzt, der seine Patienten zwar liebt, aber von Medizin herzlich wenig versteht, verdient kein Vertrauen und wird bald keine Patienten mehr haben. Oder ein Lehrer, der von bestimmten Unterrichtsfächern begeistert ist, aber wenig Ahnung von dem hat, was die Herzen und Köpfe der ihm anvertrauen jungen Menschen bewegt, wird allenfalls respektiert, aber nicht geachtet.

Mit einem Vergleich möchte ich deutlich machen, was ich damit sagen will: Eltern, die sich allein auf ihre guten Absichten verlassen, verhalten sich wie ein Marathonläufer, der sich auf das Rennen nicht gut vorbereitet hat. Er läuft in schlech­ten Schuhen, hat wenig trainiert und auch die Strecke, die er laufen muss, hat er sich nur flüchtig angesehen. Diese Ver­säumnisse kann er auch durch die besten Ab­sichten nicht ausgleichen. ­Für ihn gilt das, was überhaupt gilt: Nicht nur wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, sondern oft wird auch der bestraft, der es versäumt, sich Gedanken über das wirklich Wichtige zu machen.

Mit anderen Worten: Die guten Absichten, Gefühle und Ziele sind eine Sache, und das, was man tut, um die Ziele zu erreichen, eine andere. Es kommt also auf die Erziehungsmaßnahmen an. Und hier scheiden sich oft schnell die Geister: Die Falken, die es seit Jahrhunderten und auch heute noch gibt, plädieren für Strenge, Kompromisslosigkeit, Strafen, Unerbittlichkeit und wenn es gar nicht mehr anders geht für menschenverachtende Härte.

Was die so genannte „Härte-Pädagogik“ konkret bedeutet, möchte ich an einem zugegeben extremen Beispiel deutlich machen. Adolf Hitler hat dazu folgendes gesagt: - Folie!

„Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weg gehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein.........Stark und schön will ich meine Jugend.......So kann ich das Neue schaffen.“ (Zitiert nach: Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, 1981, Seite 169)

Gott sei Dank sagt das heute kaum noch jemand, aber gelegentlich hatte ich schon den Eindruck, dass in unserer wahrhaftig nicht kinderfreundlichen Ellenbogengesellschaft, die nicht nur Roman Herzog wiederholt heftig kritisiert hat, die Erziehungsideale der Falken leider immer noch eine große Rolle spielen.

Den Falken stehen nun aber seit etwa 100 Jahren die Tauben gegenüber. Sie lehnen die „Härte-Pädagogik“ und damit z.B. demütigende Erziehungsmaßnahmen ab und plädieren dafür, beispielsweise mit Überzeugen, gutem Zureden, Nachsicht, Ermahnen und Konsequenzen die angestrebten Erziehungsziele zu erreichen.

Diese neue Sicht der Erziehung geht auf die so genannten Reformpädagogen zurück, wie Sie bestimmt wissen. Sie waren es, die bereits vor dem ersten Weltkrieg die „Erziehung vom Kinde aus“ gefordert und zu einem radikalen Umdenken aufgerufen haben. Sie plädierten für die auch am Kind und nicht nur am Erwachsenen orientierte Erziehung und versuchten, Eltern, Erzieherinnen und Lehrkräfte davon zu überzeugen, dass Kinder keine „Mini-Erwachsenen“ sind.

Ich kann jetzt nicht auf einzelne Erz.-Maßnahmen der Falken oder Tauben eingehen, aber ich möchte Ihnen einige Fragen stellen, auf die ich noch eingehen werde: Ist in der Erziehung eigentlich alles erlaubt? Dürfen Eltern alles, was ihnen gerade in den Sinn kommt, weil Erziehung Privatsache ist? Oder gibt es so etwas wie „Gebote“, die bei der Erziehung immer zu beachten sind? Ist allen Eltern klar, dass verletzende   Erziehungsmaßnahmen -also z.B. häufiges Ausschimpfen, Anschreien, Drohungen und Strafen- dazu führen können, dass ein Kind ­nicht nur kein Selbstvertrauen entwickeln kann, sondern irgendwann nicht mehr erziehbar ist?

3. Wenn ich mit Eltern über ihre Erziehungsmethoden spreche,   wird oft deutlich, dass sie sich mehr oder weniger bewusst am „Vier-Stufen-Plan“ orientieren. Und der funktioniert im deutschsprachigen Raum seit vielen Generationen so:

1. Stufe: Sie verkünden ihrem Kind bestimmte Ge- und Verbote, also Regeln sowie Ordnungen   und passen auf, dass sich ihr Kind danach richtet.
Beispiele: Sei fleißig und ordentlich! Benimm dich und mach´mir keinen Ärger! Konzentrier dich! Pass´ in der Schule gut auf! Du darfst nicht schwindeln!
Klappt das einigermaßen, ist alles in Ordnung und der Familienfrieden bleibt gewahrt. Wenn aber nicht, geht man zur nächsten Stufe über.

2. Stufe: Mit Kritik und Ermahnungen wird versucht, das Einhalten der Ge- und Verbote durchzusetzen.
Beispiele: Kannst du nicht hören? Wie oft soll ich dir das noch sagen? Gib doch endlich Ruhe! Hör´auf zu streiten!
Auf dieser Stufe ist die Stimmung meistens schon gereizt, weil das Kind ungehorsam ist und nicht das tut, was seine Eltern von ihm verlangen. Spannun­gen liegen in der Luft. Und wenn die nicht abgebaut werden können, folgt der nächste Schritt.

3. Stufe: Mit Schimpfen, Verurteilen und Drohen wird der Druck auf das Kind erhöht. Vom Anschreien über das Zuschlagen von Türen bis zum pauschalen Verurteilen nach dem Motto „Du bist und bleibst ein Taugenichts!“ ­können jetzt viele Dumm­heiten gemacht werden, die lange nachwirken können. ­Auch die Mutter- bzw. Vater - Kind -Beziehung kann sich allmählich verändern, denn kein Kind kann allzu häufiges Ausschimpfen und Verurteilen mit einem Achselzucken abtun. Wenn aber auch das Schimp­fen und Drohen nicht helfen, bleibt nur noch die vierte Stufe übrig.

4. Stufe: Das Strafen ist dann das letzte Mittel. Was nun geschieht, ist vor dem Kind leicht zu rechtfertigen: Weil nichts geholfen bzw. alles andere nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hat, muss nun gestraft werden. Also sagen Eltern beispiels­weise: „Unser aggressiver Christoph hat sich die verdiente Strafe selbst einge­brockt. Ich wollte gar nicht strafen, aber es ging nicht anders. Wer nicht hören will, muss fühlen!“

 

Der Vier-Stufen-Plan hat natürlich viele Variationen. Je nachdem, was schon alles vorausgegangen ist, können auch einzelne Stufen übersprungen   werden, um, wie gesagt wird, „kurzen Prozeß“ zu machen. Dabei spielen insbesondere Stimmungen, Mamas bzw. Papas „Nervenkostüm“ und die Vorgeschichte eine Rolle, die jeder Konflikt hat. Also wird gelegentlich nicht erst ermahnt oder gedroht, „weil das bisher nichts gebracht hat“, wie man so sagt-, sondern man sucht sofort in der „harten Strafe“ das Heil. Durch diese Schnellverfahren kann viel Unheil angerichtet werden.

Mich würde interessieren, ob Sie Eltern kennen, die diesen Stufenplan auch anwenden und damit Erfolg haben. Als „Jung-Vater und -Lehrer“ habe ich mich nicht lange daran halten können, weil mir Kinder und Jugendliche schnell   beigebracht haben, dass ich auf Dauer nichts Positives damit erreiche.

Ja, ich war auf dem Holzweg, weil ich nicht daran gedacht hatte, dass der „Vier-Stufen-Plan der Erziehung“ für jedes Kind leicht durchschaubar ist. Denn da Kinder nicht nur clever, sondern auch sehr anpassungsfähig sind, stellen sie sich auf die Erziehungspraktiken ihrer Eltern schnell ein. Das heißt: Die „Braven“ spielen ihre Rollen und verhalten sich wenigstens zeitweise so, wie es von ihnen erwartet wird. Aber die   „Mini-Rebellen“ wehren sich gegen das immer gleiche „Spiel“ mit der immer gleichen Rollenverteilung und können gar nicht lustige Konflikte vom Zaun brechen.

Das heißt: Der Stufenplan nutzt sich schnell ab, weil das Kind quasi abge­stumpft ist und seine Ohren sofort auf Durchzug stellt, wenn es wieder die alt bekannte „Ermahn-, Mecker- und Schimpf-Arie“ über sich ergehen lassen muss. Das Wichtigste ist aber, dass sich keine vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung entwickeln kann, weil das Kind irgendwann nicht mehr daran glaubt, dass es seine   Eltern wirklich gut mit ihm meinen.  

Meine Damen und Herren, unter drei Aspekten habe ich bestimmte Probleme skizziert, mögliche Fehlentwicklungen angedeutet und auf Ursachen für Erziehungsschwierigkeiten aufmerksam gemacht. Und vielleicht haben Sie sich im Stillen auch die Fragen gestellt, die mir schon oft gestellt worden sind: Worauf kommt es denn nun bei der „Erziehung vom Kinde aus“ vor allem an?

Oder konkreter: Wie kann ich, ohne dass es ständig zu Reibereien kommt, ein Kind   zur Ehr­lichkeit und zum Ordnung-Halten, zu Fleiß und Rück­sichtnah­me erziehen? Wie erreicht man die Erziehungs-Ziele, die man sich gesetzt hat? Warum reagieren Kinder auf die guten Absichten ihrer Eltern und das, was sie aufgrund ihrer Lebenserfah­rung für er­stre­benswert halten, oft so unterschied­lich? Die einen sind -wenigstens zu bestimmten Zeiten- gehorsam und einsichtsvoll, andere dagegen allzu oft frech und bockig. Woran liegt das?

Ich habe mich intensiv mit diesen Fragen befasst, weil herausfinden wollte, welche Ursachen quasi hinter bestimmten Erziehungsproblemen stecken und   wie der Erziehungsnotstand, über den in Deutschland nun schon seit 1976 diskutiert wird, letztlich zu erklären ist. Und weil ich glaube, dass die Ergebnisse meiner „Ursachen-Forschung“ für die Erziehungspraxis in Familie und KG interessant sind, möchte ich im 2. Teil meines Referates nun darüber einiges sagen.

Ich bin folgender Überzeugung: Erziehungsprobleme entstehen vor allem deswegen, weil Eltern irgendwie an ihrem Kind vorbei leben und es nicht verstehen. Und zu diesem Nicht-Verstehen kommt es, weil sie sich nicht an bestimmte Erziehungsgrundsätze halten. ­Sie haben vielleicht die besten Absichten, aber sie scheitern mit ihrer Erziehung, weil sich ihr Kind unverstanden fühlt und sich gegen bestimmte Erziehungsmaßnahmen beispielsweise mit Trotz oder Lügen, Aggressionen oder dem Aussprechen der inneren Kündigung wehrt.

Es geht also um den Zusammenhang Erziehungsziele, -maßnahmen und -grundsätze. Folgende Fragen stellen sich:

1. Welche Erziehungsziele habe ich? Die Ziele sagen etwas über das aus, was ich erreichen möchte, weil ich es für wichtig halte.

2. Welche Maßnahmen wende ich an, um die Ziele zu erreichen, die ich mir gesetzt habe?

3. Welche Grundsätze sind im Hinblick auf die Maßnahmen zu beachten?

 

Für alle, die sich über diesen Zusammenhang schon Gedanken gemacht haben, ist das Erziehen leichter, denn sie machen weniger Fehler. Und wer weniger Fehler macht, hat mit seinem Kind weniger Probleme und allen geht es dann besser. Sehen wir uns also den Zusammenhang von Zielen,­ Maß­nahmen und Grundsätzen etwas genauer an!  

Wenn Sie sich einmal -ohne an das Thema Erziehung zu denken!- mit diesem Zusammenhang befassen und sich in verschiedenen Arbeitsbereichen umschauen, werden sie feststellen, dass er in jedem Beruf von großer Bedeutung ist.

Beispiele: Ob z.B. Ingenieur oder Busfahrer, Arzt, Erzieherin oder Lehrer, Richter, Polizist oder Journalist, jeder Priester, Bankangestellte, Politiker und Handwerker: In jedem Beruf bzw. bei jeder Arbeit müssen bestimmte Grund­sätze beachtet werden. Auch für Freund- und Partnerschaften sind sie m.E. unverzichtbar. Treue ist z.B. ein solcher Grundsatz. Auch Ehr­lichkeit. Und auch im Sport wie bei Spielen gibt es Spielregeln, die beachtet werden müssen, und wir wissen alle, dass derjenige zur Verantwortung gezogen wird, der bei der Erfüllung seiner Aufgaben Grundsät­ze oder Regeln missachtet.

Und was bedeutet das alles für das Thema Erziehung? Im allgemeinen ist es leicht, sich über bestimmte Erziehungsziele zu verständigen. Die Ziele sind nie das Problem.

Schwieriger wird es schon bei den Maßnahmen, also bei dem, was konkret zu tun ist, um die Ziele zu erreichen. Hinsichtlich der Maßnahmen immer das Richtige zu tun, ist deswegen so schwierig, weil es keine allgemeingültigen Rezepte gibt, wie man z.B. Drei- oder Sechsjährige zu Ordnung, Fleiß und Gehorsam erziehen kann.

Und welche Rolle spielen die Erz.-Grundsätze? Ich bin der Ansicht, dass Grundsätze oder Prinzipien für Erziehung das Erziehungshandeln   quasi kontrollieren müssen. Wenn Eltern   beim Erziehen bestimmte Grundsätze beachten, weil ihnen bewusst ist, dass sie nicht alles tun dürfen, was sie können, ist schon viel erreicht. Das heißt: Bestimmte Erziehungsgrundsätze bewahren sie davor, bei den Maß­nahmen etwas vielleicht sogar nie wieder gut zu Machendes zu tun. ´

Ich bin der Ansicht, dass beim Erziehen bestimmte Grundsätze das Maßgebende oder Richtung­weisende sein sollten, aber nicht allein Absichten oder Gefühle. Die Grundsätze sind quasi der Kompass, der Eltern die richtige Orientierung gibt. Wenn Eltern also fragen: „Worauf kommt es beim Erziehen vor allem an?“ sollten sie zuerst auf diesen Kompass schauen, denn er zeigt ihnen,   was immer zu beachten ist. Ich behaupte, dass die Nicht-Beachtung von Erziehungsgrundsätzen nicht nur die Ursache für viele Erziehungs- und auch Lernprobleme ist, sondern letztlich auch für den in den letzten Jahren immer häufiger beklagten   Erziehungsnotstand in unserer Gesellschaft.

Nun werden Sie fragen: Und was ist immer zu beachten?

Die folgenden neun Grundsätze   sind zum großen Teil Ergebnisse von   um­fangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen. Es handelt sich also nicht um Meinungen von irgendwelchen Leuten, die sich etwas ausgedacht haben, sondern um nachprüfbare Erkenntnisse, die für das verständnisvolle Erziehen von eminenter Bedeutung sind.

Ich habe diese Erziehungsgrundsätze, die nach meinen Erfahrungen leider längst nicht alle Eltern kennen, thesenartig   zusammengefasst und werde sie kurz kommentieren. Mit diesem Kommentar verbinde ich eine Bitte: Ich bitte Sie als professionelle Erzieherinnen, diese Grundsätze immer wieder zum Thema z.B. von Elternabenden oder -gesprächen zu machen. Darum bitte ich Sie, weil ich der Ansicht bin, dass jedes Kindergarten-Team -vor allem im Interesse der Kinder, aber auch im eigenen Interesse!- die Aufgabe hat, Eltern wesentliche pädagogische und auch lernpsychologische Zusammenhänge näher zu bringen.

Es geht also darum, im Rahmen der „Erziehungspartnerschaft mit den Eltern“ quasi Aufklärungsarbeit zu leisten. Zu dieser buchstäblich notwendigen Arbeit möchte ich Sie ermutigen. Und zwar deswegen, weil die auch im vorliegenden „Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan“ erwähnte „Erziehungskompetenz“ der Eltern gestärkt werden muss.

Ich habe gerade beiläufig gesagt, dass es auch im Interesse jedes Kindergarten-Teams ist, wenn diese Arbeit geleistet wird. Dieser Ansicht bin ich, weil ich in den drei Kindergärten in Ingolstadt, für die ich mit-verantwortlich bin, folgende Erfahrung gemacht habe: Viele Eltern haben abwegige Vorstellungen von dem, was die einzelne Erzieherin leisten soll und kann. Sie sehen nur ihr Kind und denken mehr über das Wünschenswerte als über das Machbare nach. Folglich haben sie oft unerfüllbare Erwartungen und ahnen nicht einmal, dass es im Grunde ein Kunststück ist, etwa 25 Kinder ihren individuellen Möglichkeiten gemäß zu fördern. Wenn nun ein Kindergarten-Team den Eltern wesentliche Zusammenhänge pädagogischen Handelns erklärt, werden sie für die wahrhaftig schwierige Arbeit der Erzieherinnen mehr Verständnis haben.

Was ist nun zu den einzelnen Erziehungsgrundsätzen zu sagen und sollte Eltern vermittelt werden?

Zu 1.

Das bedeutet: Jeder Mensch hat sein Temperament, seine geistigen, sozialen und seelischen Bedürfnisse, seine Fähigkeiten, Interessen, Eigenschaften,
seine Lernwege- und sein Lerntempo, seinen Charakter und seinen eigenen Willen. Kurzum: Die Eigenheiten machen die Individualität eines Menschen aus.

Daraus folgt: Jedes Kind ist anders. Auch Geschwister unterscheiden sich! So kann eine Erziehungsmaßnahme, die bei einem bestimmten Kind durchaus richtig ist, bei einem anderen völlig falsch.

Martin Buber: „Dass Wunder ist die unendliche Vielfalt der Gleichartigen.“ Wir sind alle Menschen. Und weil das so ist, gibt es keine größere Ungerechtigkeit, als die gleiche „Behandlung“ der immer Ungleichen.

Pestalozzi: Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, sondern immer nur mit sich selbst!

Auch im Kindergarten geht es also um die maßge­schnei­derte Erzie­hung, die jedes Kind braucht. Es geht -neben der überaus wichtigen sozialen Erziehung!- auch um die Individualisierung des Erziehungs- und Bildungsprozesses. Folglich dürfen die Kinder einer Gruppe nicht immer über einen Leisten geschlagen werden. Diese „Gleichmacherei­“ birgt immer die Gefahr, dass bestimmte Kinder, die aus irgendwelchen Gründen die Anforderungen nicht erfüllen können, quasi auf der Strecke bleiben.

Zu 2.

Das subjektive Entwicklungsprogramm, das in den etwa 30 000 Genen angelegt ist, die jeder Mensch in die Wiege gelegt bekommen hat, ist ein Arsenal von körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Möglich­keiten. Die Gen-Forscher sprechen im Hinblick auf das Erbgut, in dem die gesamte Entwicklung eines Menschen gleichsam „vorprogrammiert ist“ ist, von Potenzialen. Aber niemand kennt diese in jedem Kind bzw. im Men­schen liegenden Potenziale.

Konkret: Schon im Augenblick der Befruchtung steht nicht nur das Geschlecht des Kindes fest, seine Körpergröße, sein Körperbau und die Augenfarbe, sondern auch bestimmte Veranlagungen, das Temperament und sogar das Schlafbedürfnis. Und von den Stimuli (= Anregungen) und Umweltbedingungen hängt es ab, wie sich das Erbgut entwickeln kann bzw. wird.

Im Hinblick auf diese Potenziale gibt es ein grundsätzliches und bis heute ungelöstes Problem: Eltern, Erzieherinnen und auch Lehrkräfte sollen gezielt bestimmte Begabungen eines Kindes fördern, wissen aber über diese Begabungen des Kindes zunächst nichts. Um aber allmählich herauszufinden, welche Mög­lich­keiten in einem Kind angelegt sind, welche besonderen Fähigkeiten, Interessen, Bedürfnisse und auch Schwä­chen das bestimmte Kind hat, müssen es Eltern und Erzieherinnen intensivst und kontinuierlich beobachten.

Die UNESCO hat vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel „Der verborgene Reichtum“ veröffentlicht. Darin werden die Eltern aufgefordert, sich als „Schatzsucher“ zu verstehen.

Im Hinblick auf diese äußerst komplizierten Zusammenhänge geht es um das verständnisvolle ­Eingehen auf das bestimmte Kind. Es geht darum, seine individuellen Mög­lichkei­ten gewissermaßen auszukundschaften, um zu erken­nen und ihm zu helfen, dass es sich seinen Anlagen gemäß zur Persönlichkeit entwickeln kann.

Das bedeutet, dass sich alle, die ein Kind erziehen, als Entwicklungshelfer verstehen sollten, aber nicht, wie das über Jahrhunderte im deutschsprachigen Raum der Fall war und z.T. heute noch ist, als Dompteure, Gärtner, Polizisten oder sogar Diktatoren.

Mit anderen Worten: Niemand, weder Eltern, die Erzieherinnen in den Kindergärten oder Lehrkräfte, darf sich als Bau­mei­ster oder “Bildhauer” verstehen und versuchen, ein Kind nach seinem oder einem Vor-Bild, nach einem Ideal zu formen. Alle müssen wissen, dass jedes ihnen anver­traute Kind, auch wenn es niemals so fragt, vor allem eins wissen möch­te: Was willst Du aus mir machen? Willst Du mir dabei helfen, dass ich das werde, was ich mit Deiner Hilfe sein könnte, oder willst Du mich nur nach Dei­nen Vor­stellun­gen erzie­hen, unterrichten, bilden und ausbilden?

Das Fazit: Es ist falsch, ein Kind nach der Devise zu erziehen: „Mein Wille geschehe!“ Eltern müssen wissen, dass sie durch Erziehung nicht den Menschen „machen“ können, der ihnen gefällt.

Zu 3.

Kinder fühlen, denken, sehen, handeln anders als Erwachsene = unbe­wusste Intelligenz, die naiv alles in sich aufnimmt = sie sind unerfahren, weil alles neu ist, daher probieren sie auch alles aus und ma­chen “Feh­ler”, bringen sich in Gefahr, sind übermütig und waghalsig, weil sie viele Gefah­ren noch nicht kennen. Sie wollen vor allem geachtet werden. Und wer sie nicht achtet oder vielleicht sogar kränkt, von dem wenden sie sich ab.

Von diesem Anders-Sein ist auszugehen. Kinder sind Kinder und keine “Erwachsenen im Kleinformat”. Und Erziehung ist kein Prozeß, bei dem es vor allem darauf ankommt, ein Kind zum Erwachsenen gleichsam hochzuziehen. So wie im Kindergarten müssen auch in der Schule Kinder Kinder sein dürfen, und wir Erwachsenen müssen lernen, das Kindgemäße zu verstehen. Auf dieses Verständnis kommt es vor allem an, denn unzureichendes Verständnis führt zwangs­läufig zu Missverständnissen, aus denen sich folgenreiche Konflikte entwickeln können.

Übrigens sind insbesondere die Eltern für Kinder regelrecht gefährlich, die nach der Devise ermahnen, fordern, drohen und strafen „Mir hat´s ja auch nicht geschadet!“ Kann man eigentlich etwas noch Dümmeres sagen?

Kurzum: Kinder leben in ihrer Welt, die nicht die Welt der Er­wachsenen ist, sehen mit ihren Augen in die Erwachsenenwelt und ha­ben ihre Vor­stellun­gen von dem, was interessant, schön und ­wichtig ist. Aber leider ist es keinem Menschen möglich, die “Erfahrungen der Gegenseite” (Buber) zu machen. Die Indianer haben dieses Dilemma so beschrieben: Wir Erwachsenen können nicht mehr in den Schuhen der Kinder und Jugendlichen laufen, und sie noch nicht in unse­ren.

Zu 4.

Ob Eltern das wollen oder nicht: Insbesondere in den ersten Lebensjahren   sind sie das Vorbild, an dem sich ihr Kind orientiert. Und da Kinder alles buchstäblich in sich aufsaugen und durch Nachahmung lernen, ist es überaus wichtig, wie sich Eltern z.B. ihm und auch anderen Menschen gegenüber verhalten; wie sie sich freuen und was sie tun, wenn sie traurig sind; wie sie einen Kindergeburtstag zu einem Festtag machen und ihr Kind trösten, wenn es enttäuscht wurde oder sich weh getan hat. Der heilige Augustinus soll das, worauf es ankommt, in einem Satz gesagt haben: Das Leben der Eltern ist ein Buch, in dem die Kinder täglich viele Seiten lesen.

Wenn ein Kind in seinen Eltern gute Vorbilder hat, kann ein Prozeß in Gang kommen, der mit Identifikation bezeichnet wird. Identifikation ist für die erfolgreiche Erziehung eine der wichtigsten Voraussetzungen überhaupt. Darunter ist die bewusste und auch unbewusste Übernahme von Verhaltensweisen, Einstellungen, Normen und auch Werten zu verstehen. Kinder und Jugendliche identifizieren sich aber nur mit den Menschen, zu denen sie eine positive Einstellung haben. Und das sind Menschen, die sie aus irgendwelchen Gründen nicht nur respektieren, sondern achten, bewundern oder lieben. Auch das belegen wissenschaftliche Untersuchungen.

Zu 5.

Niemals pauschale Verurteilungen und Ablehnung der ganzen Person nach dem Motto Du taugst zu nichts! - Dir glaube ich kein Wort mehr! Pauschale Urteile kränken. Und Kränkungen können krank machen, wie jeder weiß. Vor allem aber: Wie soll sich bei einem Kind Selbstvertrauen und ein Selbstwertgefühl entwickeln, wenn es ständig die Erfahrung macht, dass ihm mehr Schlechtes als Gutes zugetraut wird?

Sollen Eltern und Erzieherinnen also immer alles geduldig ertragen? NEIN! Aber immer ist nur das bestimmte Fehlverhalten des Kindes zu kritisieren und gleichzeitig muss ihm erklärt werden, wie es künftig „Versagen“ vermeiden kann und dass man ihm dabei hilft, wenn es um diese Hilfe bittet.

Folgendes übersehen nicht nur Eltern oft: Jede pauschale Verurteilung ist ungerecht. Und zwar deswegen, weil jedes Kind auch viele gute, lobenswerte   Eigenschaften hat - jedenfalls mehr als schlechte. Daher sollten Eltern nicht nur auf das schauen und kritisieren, was noch unvollkommen ist, sondern sich über das freuen, was schon erreicht wurde.

Niemals Ironie, denn die versteht kein Kind.

Zu 6.

Nicht durch Strafen kann einem Kind bei der Überwindung von Trotz, Bosheit, Ungehorsam, Eifersucht usw. geholfen werden, sondern durch klare Grenzen und Konsequenzen. Strafen sind Vergeltungsmaßnahmen und haben manchmal sogar etwas mit Rache zu tun. Sie demütigen und sind letztlich kontraproduktiv, weil sich die   Einstellungen des Kindes zum Strafenden verändern. Es sind nie „vertrauensbildende Maßnahmen.“

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Strafen allenfalls kurzfristig „helfen“, weil das Kind aus Angst vor Strafe gehorcht, fleißig usw. ist. Langfristig tragen Strafen zur Verhaltensänderung eines Kindes nichts bei. Im Gegenteil! Sie können die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern empfindlich stören - im schlimmsten Fall sogar ein Leben lang!

Zu 7.

Niemals Gewalt! Diesen Grundsatz lehnen in unserer Gesellschaft immer noch 62% der Eltern ab, wie neueste Untersuchungen zeigen. In Schweden sind es 18% und in Dänemark 16%. Relativ viele Eltern in Deutschland halten   Ohrfeigen und gelegentlich eine Tracht Prügel durchaus für vertretbar.

Dabei wird folgendes übersehen: Wer ein Kind mit Worten steinigt oder schlägt, „lehrt“ ihm das Steinigen oder Schlagen und trägt so zur Ausbreitung der Gewaltbereitschaft bei. Und zwar deswegen, weil Gewaltanwendung der Eltern für Heranwachsende immer ein Modell-Verhalten ist. Wer geschlagen wurde oder wird, hält nämlich Gewalt irgendwann für etwas völlig Normales und wird nicht zögern, selbst Gewalt anzuwenden und z.B. sagen: Wenn mich meine Eltern schlagen, darf ich auch andere Kinder schlagen, denn das ist doch ganz normal. So ist Gewalt immer der Nährboden für neue Gewalt. 86% aller verurteilten Gewalttäter in den Jahren 1996-2002 sind als Kinder geschlagen worden.

Zu 8.

Ein Kind wird verwöhnt,

          -wenn ihm keine Grenzen gesetzt werden

          -wenn sich Eltern inkonsequent verhalten

          -wenn Eltern alles entschuldigen und die „Schuld“ für Versagen immer bei anderen gesucht wird

          -wenn ihm keine Spielregeln für das Mit-Einander gegeben werden und keine Konsequenzen gezogen werden, wenn es sich nicht daran hält

          -wenn ihm jeder Wunsch immer sofort erfüllt wird

          -wenn es nicht dazu erzogen wird, zu Hause immer dann mitzuhelfen, wenn seine Hilfe gebraucht wird, und die Familie zum „Hotel Mama“
            verkommt.

Verwöhnte Kinder sind im Grunde unerzogene Kinder. Kinder müssen schon früh Grenzerfahrungen machen, denn es kann äußerst schwierig sein, beispielsweise bei einem Sechsjährigen die Versäumnisse nachzuholen, die beim Dreijährigen gemacht wurden. Sie müssen also schon früh zur äußeren Ordnung angehalten werden, denn das ist die wichtigste Voraussetzung für die innere Ordnung. Durch Verwöhnen erreicht man das nicht.

Zu 9.

Ein Kind, das sich von seinen Eltern allzu oft ungerecht behandelt und nicht geachtet fühlt, misstraut ihnen auch dann, wenn sie sagen: Wir wollen doch nur dein Bestes! Es wird sich von ihnen abwenden und ist letztlich nicht mehr erziehbar. Daher gilt: Niemals, was auch geschehen ist, darf einem Kind mit Liebesentzug gedroht werden. Dieses Abschieben oder den Ausschluss auch der Familiengemeinschaft verzeiht ein Kind nie. Und zwar deswegen nicht, weil es nichts mehr als den Verlust der Geborgenheit fürchtet. Es wird sich allmählich von seinen Eltern abwenden und spätestens in der Pubertät die „innere Kündigung“ aussprechen und sich denen zuwenden, die ihm Geborgenheit versprechen.

Das in aller Kürze zu den Erziehungsgrundsätzen, die entscheidend dazu beitragen können, die Erziehungskompetenz der Eltern zu stärken. Das sollte das Ziel sein, dem sich auch und gerade Erzieherinnen verpflichtet fühlen. Sich dieser Aufgabe anzunehmen, ist deswegen so wichtig, weil Erziehungskompetenz die Grundlage für eine Erziehungskultur, die wir in unserer Gesellschaft dringend brauchen. Sie könnte entscheidend dazu beitragen, dass endlich der „Teufelskreis der Erziehung“ durchbrochen wird, den der französische Dramatiker Jean Anouilh in einem Satz beschrieben hat: „Die Kinder müssen die Dummheiten ihrer Erzieher so lange ertragen, bis sie groß genug sind, sie zu wiederholen.“

Lassen Sie mich mit einer „Geschichte“ schließen, in der auf sehr interessante Weise auch das Thema „Erziehung und Bildung für Kinder“ zur Sprache gebracht wird: Dem jüdischen Sozialphilosophen Martin Buber (1878-1965) wurde einmal von Eltern folgende Frage gestellt: Was ist in der Erziehung eigentlich das Wichtigste? Buber war von dieser Frage überrascht und bat die Eltern, ihm Zeit zum Nachdenken zu geben, so wird berichtet. Nach einigen Monaten beantwortete er diese Frage in einem Satz: Das Wichtigste in der Erziehung ist, jungen Menschen zu helfen, dass sie mit eurer Hilfe die Zustimmung zum Ich, dem Du und Welt finden.

Mit dieser Antwort waren die Eltern unzufrieden, da sie Buber nicht verstanden. Und das sagten sie ihm auch. Daraufhin erklärte er ihnen, was es mit dem ICH - dem DU - und der WELT auf sich hat:

Zum ICH sagte er unter anderem: Sorgt dafür, dass eure Kinder Selbstvertrauen und ein Selbstwertgefühl entwickeln können; dass sie gleichsam „Ja“ zu sich sagen und sich mit sich selbst anfreunden; dass sie ihre Stärken kennen, aber auch bereit sind, Schwächen, die sie auch haben, mit eurer Hilfe zu überwinden.

Zum DU sagte er unter anderem: Unterlasst alles, was dazu beitragen könnte, von euren Kinder nicht mehr geachtet und geliebt zu werden, denn ein Kind, das sich ungeliebt fühlt, ist unerziehbar. Nur wenn euch eure Kinder vertrauen und achten, werden sie sich mit euch identifizieren und auch dann gehorchen, wenn es ihnen schwer fällt.

Zur Zustimmung zum DU gehört aber auch, dass eure Kinder lernen, anderen Menschen vorurteilsfrei, hilfsbereit und höflich zu begegnen. Dabei ist es egal, welche Sprache diese Menschen sprechen und welche Hautfarbe sie haben. Im Grunde geht es um die Erziehung zur Nächstenliebe.

Zur WELT sagte er: Damit meine ich die Gesellschaft, in der eure Kinder heranwachsen und für die ihr verantwortlich seid. Zeigt ihnen das Schöne und Erfreuliche in dieser Gesellschaft, aber gaukelt ihnen nicht vor, dass diese Gesellschaft heil sei. Ihr müsst in ihnen jedoch die Zuversicht wecken, dass die Gesellschaft nicht unheilbar ist.

Ich glaube nicht, dass man das, worauf es bei der Erziehung „vom Kinde aus“ ankommt, schöner als Martin Buber sagen kann. Und so träume ich davon, dass Sie und irgendwann alle Erwachsenen in unserer Gesellschaft ihren Teil dazu beitragen, dass junge Menschen die Zustimmung zum Ich, dem Du und Gesellschaft finden. Wenn ich aber nur alleine träume, bleibt das ein Traum - wenn aber viele mit mir träumen, ist das der Beginn einer neuen Wirklichkeit. Und darauf hoffe ich.